Reform des Strafverfahrens – Ein Schritt in die richtige Richtung?

von Jasper von Schlieffen

Im Februar 2004 haben die Regierungsfraktionen und das Bundesjustizministerium einen Diskussionsentwurf zur Reform des Strafverfahrens (DE) vorgelegt.[1] Der Entwurf sieht u. a. vor, die Verteidigung stärker an Vernehmungen im Er­mitt­lungsverfahren zu beteiligen. Ein zaghafter Schritt in die richtige Richtung.

Das Wort „Strafverfahrensänderungsgesetz“ stand in den letzten Jahrzehnten für den kontinuierlichen Abbau der Rechte der Verteidigung. Dieser Abbau erfolgte großenteils implizit durch eine Ausdehnung polizeilicher Ermittlungsbefugnisse, teilweise aber auch ganz offen. Der im Februar vorgelegte Diskussionsentwurf der rot-grünen Regierungsfraktionen und des Bundesjustizministeriums verspricht nun eine Richtungsänderung.

Die Reform des Strafverfahrens soll der Verteidigung im Ermittlungsverfahren mehr „Gelegenheit zur Mitwirkung“ bringen. Von der Teilnahme der VerteidigerInnen an Vernehmungen, ihrer „Einbindung ins Ermittlungsverfahren“ erwarten sich die VerfasserInnen des Diskussionsentwurfs eine Entlastung und Beschleunigung des Hauptverfahrens, die sie zusätzlich durch einen Zwangstransfer in die Hauptverhandlung erzwingen wollen. Dort sollen Vernehmungen, die im Beisein des Verteidigers stattfanden, nur noch als Protokoll verlesen werden.

So begrüßenswert die Erweiterung der Verteidigungsrechte ist, so deutlich ist auf der anderen Seite, dass die vorgeschlagenen Neuregelungen in der Strafprozessordnung (StPO) erstens zu kurz greifen und zweitens grundsätzliche Mängel aufweisen.

„Einem Anspruch angenähert“

Unter „Gelegenheit zur Mitwirkung“ ist laut Begründung eine Rechtsposition zu verstehen, „die einem Anspruch angenähert ist“. Die neuen Rechte zur Teilnahme an Vernehmungen seien effektiv auszugestalten. Namentlich soll der Verteidiger vom Termin benachrichtigt werden. Bei nachvollziehbaren und gewichtigen Gründen sei auf eine Terminverschiebung einzugehen. Diese Pflicht zur Rücksichtnahme soll allerdings dort ihr Ende finden, wo aus dem Verfahren heraus unabweisbare Gründe dafür sprechen. Es leuchtet ein, dass die Verfasser des Entwurfs die weitere Ausgestaltung dieser Rücksichtnahmepflicht der zukünftigen Rechtsprechung überlassen wollen.

Nicht einleuchtend ist jedoch, dass der Entwurf auf die Voraussetzungen der aktiven und effektiven Teilnahme an einer Vernehmung nicht eingeht: Eine aktive Beteiligung des Verteidigers, die einen späteren Transfer der Vernehmung in der Hauptverhandlung rechtfertigen soll, ist nur möglich, wenn er zuvor Gelegenheit zur Akteneinsicht hatte, also über den gleichen Wissensstand verfügen kann wie die Staatsanwaltschaft, und wenn er zuvor seinen Mandanten sprechen und ihn als Informationsquelle ausschöpfen konnte.

Ebenfalls offen bleibt, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Verwertungsverbot greifen soll, wenn die neuen Partizipationsrechte und die Rücksichtnahmepflicht verletzt werden.[2]

Begrenzte Reichweite

Der überwiegende Teil der neuen Mitwirkungsrechte des Verteidigers bezieht sich auf staatsanwaltschaftliche und richterliche Vernehmungen von Zeugen, Sachverständigen sowie Mitbeschuldigten (§§ 163a Abs. 4 und 168c DE). Im letzteren Falle bleibt allerdings offen, wie der Begriff des Mitbeschuldigten bestimmt werden soll. Bliebe es bei einer formellen Bestimmung durch die Einheitlichkeit des Verfahrens, läge es in der Hand der Staatsanwaltschaft, die Verbindung oder Trennung von Ermittlungsverfahren und damit den Umfang der Anwesenheitsrechte des Verteidigers für das weitere Strafverfahren zu bestimmen.

Bei polizeilichen Vernehmungen sind die im DE vorgesehenen neuen Mitwirkungsrechte der Verteidigung dagegen erheblich enger gezogen: Sie beschränken sich auf Vernehmungen des Beschuldigten (§ 163a Abs. 4 DE) sowie von Zeugen, die auf einer Benennung durch den Verteidiger „beruhen“ (§ 144 DE). Laut Begründung bedeutet dies, dass die Benennung der betreffenden Person durch den Verteidiger kausal für die Vernehmung sein, es sich also um eine für das Ermittlungsverfahren „neue“ Person handeln muss. Andererseits solle es nicht darauf ankommen, wer einen Zeugen als erster benennt, sondern ausschließlich auf die Kausalität. Dies dürfte unproblematisch sein in Fällen, in denen ein Verteidiger einen den Ermittlungsbehörden bis dahin nicht bekannten Zeugen nennt. Schwieriger stellt sich das Verhältnis von Kausalität und „neuem“ Zeugen jedoch dar, wenn ein Zeuge zwar namentlich bekannt ist, aber – aus welchen Gründen auch immer – noch nicht vernommen wurde. Ein solcher Zeuge ist nicht mehr „neu“ im Sinne der Entwurfsbegründung, und ob das Verlangen des Verteidigers, den Zeugen zu vernehmen, dann als kausal für die Vernehmung zu bewerten ist, wird regelmäßig schwer zu beurteilen sein. Auf das subjektive Empfinden des Staatsanwaltes kann es wohl kaum ankommen.

Diese begrifflichen Schwierigkeiten verweisen auf eine entscheidende Lücke in dem Reformvorhaben. Woran es letztlich fehlt, ist ein Beweisantragsrecht des Verteidigers mit einer korrespondierenden Bescheidungspflicht durch die Staatsanwaltschaft. Eine solche Regelung würde den Verfahrensbeteiligten die Erforschung der Kausalität zu Zeugenvernehmungen ersparen.

Dass die Mitwirkungsrechte der Verteidigung bei polizeilichen Vernehmungen weiterhin nur sehr beschränkt sein sollen, ist aber nicht nur ein technisches Problem. Vielmehr zeigt sich hier, dass die Reformvorschläge des Diskussionsentwurfs keineswegs die revolutionäre Kraft haben werden, die von Seiten der Strafverfolgungsbehörden befürchtet wird.[3] Zwar gibt es keine verlässlichen Statistiken über den Anteil der polizeilichen Vernehmungen an denen des Ermittlungsverfahrens insgesamt. Sicher ist jedoch, dass sie den weitaus größten Teil (schätzungsweise neunzig Prozent) ausmachen.

Weil der Diskussionsentwurf diesen Löwenanteil der Vernehmungen aber nicht antastet, ist auch mit keiner tiefgreifenden Umwälzung des Ermittlungsverfahrens zu rechnen. Die bisher von Seiten der Strafverfolgungsbehörden geäußerten Warnungen lassen vielmehr eine gegenläufige Entwicklung befürchten: dass nämlich künftig der Anteil an staatsanwaltschaftlichen und richterlichen Vernehmungen von Zeugen im Ermittlungsverfahren weiter sinkt, weil Vernehmungen vermehrt der Polizei überlassen werden, um eine unerwünschte Beteiligung der Verteidigung zu umgehen. Dies wäre ein weiterer Schritt zur Aushöhlung der Stellung der Staatsanwaltschaft als Herrin des Ermittlungsverfahrens. Letztlich ist nach dem Konzept des Entwurfes zu befürchten, dass nicht eine stärkere Beteiligung der Verteidigung bei Vernehmungen im Ermittlungsverfahren, sondern eine weitere Schwächung der Staatsanwaltschaft bewirkt wird.

Polizeiliche Vernehmungen

Die Strafverteidigervereinigungen haben sich von jeher für ein umfassendes Beteiligungsrecht der Verteidigung im Ermittlungsverfahren eingesetzt, das auch für polizeiliche Vernehmungen gilt. Hintergrund dieser Forderung ist die mittlerweile zum Allgemeinplatz gewordene Einsicht, dass im Ermittlungsverfahren die Weichen für die weitere Entwicklung eines Strafverfahrens gestellt werden.

Hauptverhandlungen werden auch heute noch vielfach nach dem Prinzip geführt, den Akteninhalt nachzuvollziehen. Wahrnehmungs­psychologische Studien haben wiederholt aufgezeigt, dass es Verfahrensbeteiligten – auch Richtern – schwer fällt, sich von einem einmal anhand des Aktenstudiums gewonnenen Bild des Falles zu trennen (sog. Inertia-Effekt).[4] Das zum Akteninhalt geronnene Beweisergebnis des Ermittlungsverfahrens, das die richterliche Vorstellung stark beeinflusst, ist aber keineswegs von Objektivität geprägt. Kriminalbeamte arbeiten bei Vernehmungen mit Ermittlungshypothesen, die ihre Wahrnehmung beschränken und vielfach dazu führen, dass Vernehmungen unter einem einseitigen Blickwinkel und mit geschlossenen Fragen durchgeführt werden.[5] Auch die Praxis der Protokollierung polizeilicher Vernehmungen führt vielfach zu Auslassungen, Modifikationen und falschen Paraphrasierungen, die die Aussage verzerren.[6] All dies beeinträchtigt die Qualität der Ermittlungsergebnisse erheblich.

Verteidiger sind deshalb in der Hauptverhandlung vielfach genötigt, die Entstehungsgeschichte von Aussagen, die Vorgehensweise der Polizei bei informellen Vorgesprächen etc. aufzuklären. Das dazu notwenige Befragen von Zeugen, Vernehmungsbeamten, Dolmetschern etc. in der Hauptverhandlung führt häufig zu Verdruss auf Seiten des Gerichts und der Staatsanwaltschaft und lässt den Verteidiger vielfach zu Unrecht querulatorisch erscheinen.

Die Forderung der Strafverteidigervereinigungen, im Ermittlungsverfahren auch an polizeilichen Vernehmungen beteiligt zu sein, legitimiert sich durch die Einsicht, dass die Wahrheit in Zeugenvernehmungen vielfach eher durch eine kontradiktorische als durch eine einseitig von Ermittlungshypothesen geleitete Befragung erreicht wird. Die Forderung nach Beteiligung an polizeilichen Vernehmungen verbindet sich daher mit der Hoffnung, an einer fairen Beweisgewinnung mitwirken und so die nachteiligen psychologischen Effekte, die sich für den Beschuldigten aus dem Aktenstudium durch die Richter ergeben, mildern zu können. Die Hauptverhandlung kann dadurch zwar nicht von der Zeugen-Vernehmung, wohl aber von der quälenden und mitunter fruchtlosen Bemühung entlastet werden, die Entstehung von Aussagen aufzuklären.

Die durch eine umfassende Verteidigerbeteiligung gewonnene Transparenz der Entstehungsgeschichte von Beweisergebnissen würde auch dazu beitragen, einer Lösung des Problems der Legitimität von Verfahrensabsprachen näher zu kommen. Die Kritik der Strafverteidiger an der Praxis der Verfahrensabsprachen rührt zu einem nicht unwesentlichen Teil daher, dass die den Absprachen vorangehenden Prognosen über den Verfahrensausgang regelmäßig anhand der Aktenlage gewonnenen werden und damit, aufgrund der vorbeschriebenen psychologischen Effekte, auf einer zweifelhaften Grundlage zu Lasten des Beschuldigten ausfallen.

Ein Verteidiger, der sich ein eigenes Bild von der Qualität von Beweisergebnissen machen kann, wird einen Mandanten auf soliderer Grundlage zu vorgeschlagenen Verfahrensabsprachen raten können und ihm unter Umständen sogar raten, solche Absprachen zu initiieren.

Die Strafverteidigervereinigungen sind sich darüber im Klaren, dass die von ihnen geforderte umfassende Beteiligung an Zeugenvernehmungen im Ermittlungsverfahren auf erhebliche praktische Probleme stößt, die einer weiteren Diskussion bedürften. Sofern eine umfassende Beteiligung aus praktischen Gründen nicht möglich ist, wäre auch daran zu denken, polizeiliche Vernehmungen im Ermittlungsverfahren einschließlich der Vorgespräche auf Video oder Tonband aufzuzeichnen oder Vernehmungen, an denen ein Verteidiger nicht mitgewirkt hat, einem Verwertungsverbot zu unterwerfen, sofern der Beschuldigte oder sein Verteidiger dies beantragen.

Transfer von Vernehmungsprotokollen

Das Unmittelbarkeitsprinzip (§ 250 StPO), der Grundsatz, dass Beweispersonen in der Hauptverhandlung zu vernehmen sind und diese Vernehmung nicht durch Protokolle oder schriftliche Erklärungen ersetzt werden dürfen, ist ein zentrales Element des Strafverfahrensrechts. Das ersatzweise Verlesen des Protokolls einer früheren Vernehmung war bisher nur in eng begrenzten Ausnahmefällen möglich.

Der Diskussionsentwurf sieht nun eine weitere Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes vor: Wenn ein Verteidiger an einer Vernehmung im Ermittlungsverfahren teilgenommen hat, soll nun die Verlesung eines Protokolls (oder das Vorspielen einer Videoaufnahme) die persönliche Aussage ersetzen können. Dieser Transfer soll möglich sein bei ermittlungsrichterlichen und staatsanwaltschaftlichen Vernehmungen von Zeugen, Sachverständigen und Mitbeschuldigten (§ 251 Abs. 1 Nr. 2 DE) sowie richterlichen Vernehmungen des Beschuldigten selbst (§ 254 Abs. 1 DE). Die vernehmungsersetzende Verlesung der Niederschriften ist nicht an die Zustimmung des Verteidigers oder des Beschuldigten gebunden, sondern steht nach dem Konzept des Diskussionsentwurfs im Ermessen des Tatrichters.

In Diskussionen mit Vertretern des Bundesjustizministeriums wurde deutlich, dass der „Zwangstransfer“ als Preis für die erweiterten Beteiligungsrechte der Verteidigung im Ermittlungsverfahren verstanden wird. Darüber hinaus erwartet man sich eine Verschlankung der Hauptverhandlung und damit Kosteneinsparungen und hofft so auch die Justizverwaltungen der Länder bewegen zu können, der erweiterten Beteiligung des Verteidigers im Ermittlungsverfahren zuzustimmen. Das Junktim zwischen den (begrenzten) neuen Mitwirkungsrechten der Verteidigung und der Möglichkeit zum Zwangstransfer in die Hauptverhandlung ist also nicht sachlicher Notwendigkeit, sondern einem politischen und fiskalischen Kalkül der Entwurfsverfasser geschuldet.

Die Strafverteidigervereinigungen lehnen die Möglichkeit des Zwangstransfers grundsätzlich ab. Sie lässt sich nicht schadlos in das Gesamtgefüge des Strafverfahrensrechts eingliedern. Erstens würde sie bedeuten, dass ein Angeklagter aufgrund einer in der Hauptverhandlung verlesenen Zeugenaussage verurteilt werden könnte, obgleich er diesen Zeugen niemals zu Gesicht bekommen und damit auch keine Gelegenheit hatte, ihm Fragen zu stellen. Dies ist mit Art. 6 Abs. 3e der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht zu vereinbaren, der dem Beschuldigten das Recht einräumt, eigene Fragen an den Belastungszeugen zu stellen.[7]

Zweitens schränkt der Zwangstransfer die Möglichkeiten ein, die Glaubwürdigkeit eines Zeugen zu überprüfen: Ein wesentliches Kriterium für deren Beurteilung liegt in der Beständigkeit bei wiederholter Befragung. Aus diesem Grund hat sich jedes Gutachten zur Glaubwürdigkeit eines Zeugen mit einer sog. Konstanzanalyse zu befassen, die allerdings nur unter der Voraussetzung möglich ist, dass die Beweisperson mehrfach vernommen wird.[8] Dies gilt letztlich auch für die tatrichterliche Beweiswürdigung in schwierigen Beweiskonstellationen – etwa wenn Aussage gegen Aussage steht. In zahlreichen Entscheidungen hat der Bundesgerichtshof darauf hingewiesen, dass der Tatrichter dann eine besonders sorgfältige Beweiswürdigung der Aussage des Belastungszeugen vornehmen muss, die sich auch mit der Aussageentwicklung und mit Abweichungen im Aussageinhalt zu befassen hat. Macht das Tatgericht von der Möglichkeit des Zwangstransfers Gebrauch, so schmälert es zugleich die Beurteilungsgrundlage für die spätere Beweiswürdigung. Dem Angeklagten bliebe im Falle einer Revision als Angriffsmittel gegen den vollzogenen Zwangstransfer einzig die Aufklärungsrüge, bei der er nach der obergerichtlichen Rechtsprechung allerdings genötigt ist, genau anzugeben, welches ihm günstige Ergebnis die Vernehmung des Zeugen in Abweichung von der Vernehmungsniederschrift erbracht hätte.[9] Der allgemeine Hinweis, die erneute Vernehmung des Zeugen sei schon notwendig gewesen, um eine Konstanzanalyse zu ermöglichen, wird den strengen Anforderungen der Rechtsprechung nicht gerecht.

Drittens bleibt bei der vorgeschlagenen Regelung des Entwurfs unklar, welcher Verteidiger an der Vernehmung des Zeugen im Ermittlungsverfahren mitgewirkt haben muss. Reicht es bereits aus, wenn der Verteidiger eines Mitbeschuldigten bei der Vernehmung anwesend war? Soll der Zwangstransfer auch möglich sein, wenn es zu einem Verteidigerwechsel gekommen ist? Was soll passieren, wenn der Angeklagte in der Hauptverhandlung geltend macht, der an der Vernehmung mitwirkende Verteidiger im Ermittlungsverfahren habe seine Mitwirkungsrechte nur unzureichend ausgeübt? Diese ungeklärten Fragen zeigen die Schwäche des Konzepts vom Zwangstransfer auf.

Fraglich ist ferner, ob die Möglichkeit des Zwangstransfers wirklich die angestrebte Entlastung der Hauptverhandlung und damit eine Kostenersparnis bewirkt. Zu erwarten ist eher das Gegenteil: Durch den Zwangstransfer werden Konflikte in der Hauptverhandlung vorprogrammiert. Ein Verteidiger, der die Vernehmung eines Zeugen in der Hauptverhandlung erreichen will, wird alle ihm zu Gebote stehenden Mittel dafür auszuschöpfen wissen: Er wird entsprechende Anträge stellen, Zurückweisungsentscheidungen beanstanden und im Extremfall Befangenheitsgesuche anbringen. Schon im Hinblick auf die Vorbereitung einer Revision wird er sich gezwungen sehen, alle prozessual vorgesehenen Register zu ziehen. Von einer Entlastung der Hauptverhandlung kann dann kaum mehr die Rede sein.

Autoritäre Schlagseite

Der Zwangstransfer löst das Unmittelbarkeitsprinzip weiter auf. Er setzt die Bedeutung der Hauptverhandlung herab und schwächt die Stellung des sich in ihr verteidigenden Angeklagten. Die von den Verfassern des Diskussionsentwurfs angestrebte Entlastung der Hauptverhandlung kann jedoch nicht durch die Einführung neuer autoritärer Instrumente erreicht werden, sondern nur indem die Ermittlungsergebnisse transparenter und damit auch für die Verteidigung und den Angeklagten akzeptabler werden.

Mit der Erweiterung der Mitwirkungsrechte der Verteidigung im Ermittlungsverfahren geht der Diskussionsentwurf hier durchaus, wenn auch zögerlich, in die richtige Richtung. Eine ernst zu nehmende Beteiligung des Verteidigers an Vernehmungen in diesem Verfahrensstadium erspart zum einen die mühselige Aufklärung der Entstehungsgeschichte von Zeugenaussagen. Zum anderen wird ein Verteidiger, der an der Vernehmung eines Zeugen mitgewirkt hat und sich ein Bild von dessen Person und der Qualität seiner Aussage machen konnte, in die Lage versetzt zu entscheiden, ob er an einer Aussage in der Hauptverhandlung festhalten oder der Verlesung eines Protokolls (nach dem bestehenden § 251 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 3 StPO) zustimmen soll.

Das Konzept des Zwangstransfers entwertet die erweiterten Mitwirkungsrechte im Ermittlungsverfahren. Angesichts der damit verbundenen Risiken für die Hauptverhandlung wird jeder Verteidiger sorgfältig prüfen, ob er wirklich an einer Vernehmung im Ermittlungsverfahren teilnimmt.

Der Gesetzgeber sollte bei dem Bemühen, eine Entlastung in der Hauptverhandlung zu erreichen, besser auf die praktische Vernunft der Verteidiger und der von ihnen beratenen Beschuldigten vertrauen. Im Ganzen konterkariert das autoritäre Element des Zwangstransfers das ansonsten von Bemühungen um Transparenz und Konsens geprägte Reformvorhaben. Die Einsicht in die Bedeutung des Ermittlungsverfahrens für das gesamte Strafverfahren und die daraus abgeleitete Forderung nach Beteiligungsrechten der Verteidigung im Ermittlungsverfahren sind mit einem weiteren Bedeutungsverlust der Hauptverhandlung nicht vereinbar.

Jasper von Schlieffen ist Rechtsanwalt in Berlin und leitet das Organisationsbüro der Strafverteidigervereinigungen. Der Artikel basiert auf der Stellungnahme der Strafverteidigervereinigungen zum Diskussionsentwurf.[10]
[1] www.stpo-reform.de/_download/20040218_diskussionsentwurf.pdf
[2] Ein Verwertungsverbot war bisher schon in Fällen des § 168c Abs. 5 StPO anerkannt, wenn die Benachrichtigungspflicht bei richterlichen Vernehmungen verletzt wurde, vgl. Meyer-Goßner, L.: Strafprozessordnung, 47. Aufl., München 2004, § 168c Rn. 6
[3] vgl. die Debatten des Juristentages 2004, www.djt.de/files/DJT65Thesenheft.pdf
[4] vgl. Schünemann, B.: Der Richter im Strafverfahren als manipulierter Dritter?, in: Strafverteidiger 2000, H. 3, S. 159-165
[5] Rasch, W.; Hinz, S.: Ermitteln für den Tatbestand, in: Kriminalistik 1980, H. 9, S. 377-382; vgl. auch Nack, A.: Verteidigung bei der Glaubwürdigkeitsbeurteilung von Aussagen, in: Strafverteidiger 1994, H. 10, S. 555-564 (563)
[6] ebd., S. 562 f. m. w. N.
[7] siehe auch Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, in: Strafverteidiger 1990, H. 11, S. 481-483
[8] Grundlegend BGH, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht 2002, H. 2, S. 100-102
[9] vgl. Dahs, H.; Dahs, H.: Die Revision im Strafprozess, 6. Aufl., München 2001, Rn. 480
[10] www.strafverteidigervereinigungen.org/Material/andere/StellDiskPapier.pdf

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