Warum Abolitionismus? Theorie und Praxis einer nicht neuen Bewegung

von Hannah Vögele, Lara Möller und Rebecca Merdes

In diesem einleitenden Text heben wir drei Aspekte hervor, die Abolitionismus so relevant machen. Abolitionismus als kritische historische und materialistische Theorie und Gesellschaftsanalyse, die viele der Probleme unserer Zeit grundlegend angehen kann; Abolitionismus als praktischer Organisierungsansatz, der gerade in den letzten Jahren global viel Zuspruch gefunden hat; und zuletzt Abolitionismus als Gegenwarts- und Zukunftsperspektive, die nicht in der Kritik verbleibt, sondern direkt Alternativen aufbaut und sichtbar macht.

Den Ursprung des Abolitionismus finden wir in dem Befreiungskampf versklavter Menschen. Entgegen der Vorstellung, dass es weiße Abolitionist*innen in den imperialen Zentren waren, die die formelle Abschaffung der Sklaverei auf Basis moralischer Argumente erreichten, war Abolitionismus eine Bewegung für die volle soziale, politische – und menschliche – Emanzipation von versklavten und enteigneten Menschen, die weit über legale Emanzipation hinausreichte.[1] Es ging, kurz gesagt, nicht nur um das Abschaffen der Plantagen und des Eigentums an Menschen, sondern um das Projekt der Abschaffung einer Gesellschaft, die diese Beziehungen überhaupt möglich und nötig macht; also das Abschaffen der sozialen Beziehungen und Struktur eines globalen Systems, das auf Versklavung, Kolonialismus, Gewalt und Ausbeutung basiert. Das Fortleben dieses Systems bedeutet, dass Abolitionismus als Projekt noch nicht vollendet ist, und so kämpfen radikale Abolitionist*innen heute in dieser direkten Traditionslinie.[2]

Aus diesen historischen Kontinuitäten heraus geht es heute primär um die Überwindung von Strafregimen und staatlichen Gewaltinstitutionen, oft mit Hauptfokus auf Polizei, Gefängnis und Grenzsystem als Kristallisationspunkte eines karzeralen Systems, das es als Ganzes aufzuheben gilt. Denn diese Institutionen dienen nicht dem Schutz der Menschen, sondern dem Schutz von Eigentum, der Kontrolle von Armut, Widerstand und Mobilität und der Erhaltung einer historisch gewachsenen rassifizierten Ordnung auf nationaler sowie globaler Ebene.[3]

Sobald die Funktionen des Herrschaftserhalts und der Reproduktion der bestehenden Ordnung als zentral für staatliche Gewaltinstitutionen erkannt werden, enttarnen sich liberale Kritiken an bestimmten unmenschlichen Umständen oder individuellen rassistischen Praxen als mehr als unzureichend. Während aus liberaler Kritik beispielsweise für humanere Gefängnisse oder Antidiskriminierungstrainings für die Polizei argumentiert wird, die das System reformieren, doch nicht in seiner grundsätzlichen Funktion verändern, ist für radikale Abolitionist*innen klar: Was nicht kaputt ist, kann nicht repariert werden, es muss überwunden werden. Dabei geht es also weiterhin nicht nur um den Abriss physischer Gebäude wie etwa von Gefängnissen als solchen. Es geht um die Abschaffung der Bedingungen, die sie möglich machen und unvermeidlich erscheinen lassen.[4]

Diese abolitionistische Perspektive schützt vor fehlerhaften Analysen, Forderungen oder politischen Schritten. Zum einen wird deutlich, dass Reformen, die mehr Geld und Ressourcen in Gewaltinstitutionen stecken, diese nur verschlimmern und ihre Legitimation stärken. Neben Rassismusschulungen für eine inhärent rassistische Institution wie die Polizei, kann so auch die Ausstattung von Polizist*innen mit Tasern oder Bodycams nicht nur als Ressourcenverschwendung, sondern als gewalterhaltend erkannt werden. Aber auch Reformen wie die Verkürzung von Strafen, statt deren Abschaffung, wie zuletzt bei der Ersatzfreiheitsstrafe in Berlin, die Armut kriminalisiert und damit gleichzeitig erhält und ver­schärft.[5] Statt dieser „reformistischen” Reformen, weist eine abolitionistische Analyse auf „nicht-reformistische” Reformen hin. Ursprünglich im Kontext der sozialen Bewegungen der 1960er Jahre entwickelt, wird die Idee von Reformen, die Ausbeutungs- und Unterdrückungsstrukturen aufheben und nicht verstärken, heute von Abolitionist*innen zu Initiativen weiterentwickelt, die den Schaden des Strafsystems verringern und gleichzeitig Vorstellungen davon, dass Gefängnisse oder Polizeiarbeit reformiert werden könnten, entgegenwirken.[6] Dies wird beispielsweise beim Kampf für die Abschaffung sogenannter „Kriminalitätsbelasteter Orte” (KbOs) in Berlin versucht.[7]

Zum anderen ermöglicht diese Perspektive einen klaren Blick auf oft schnell vorgeschlagene „Alternativen” zur Strafjustiz und Slogans wie „Care statt Cops“.[8] Wenn mit „Care“ unhinterfragt Sozialarbeit, Psychiatrie oder Anstalten gemeint sind, dann kann Abolitionismus einfachen Verklärungen direkt entgegenwirken. Staatlich sanktionierte Gewalt findet nicht nur in hoch-militarisierten, bewaffneten oder eingezäunten Institutionen statt, sondern spiegelt sich auch in verwaltenden und vermeintlich sorgenden Institutionen wider.[9] So agieren beispielsweise Jugendämter oft als verlängerter Arm der Polizei und sanktionieren insbesondere arme und migrantische Familien.[10] Nach Jahrzehnten neoliberaler Sparpolitik nehmen die repressiven und kontrollierenden Aspekte dieser Arbeit zu. Auch in der sozialen Arbeit sitzen Streetworker vermehrt am runden Tisch der Polizeibehörden, um im Rahmen des Community Policings weniger eskalative, aber in ihrer politischen Funktion konsequente „Sicherheitsmaßnahmen“ im Sinne einer rassistischen Versicherheitlichung der Stadt zu erwirken.[11]

Diese Verbindung zu Stadtpolitik zeigt schon, dass die abolitionistische Perspektive nicht nur einen umfassenden Blick auf Polizieren in all seinen Formen ermöglicht, sondern auch das Verständnis von sozialen Kämpfen, die sich vorerst um andere Themen zu drehen scheinen, erweitert. So fallen beispielsweise Wohnungskrise und Debatten zu Öffentlicher Sicherheit zusammen, die eindeutige Verbindung wird jedoch zu selten hergestellt. Als beispielsweise Breonna Taylor kurz vor dem Mord an George Floyd 2020 in den USA in ihrer Wohnung von der Polizei erschossen wurde, ging dem eine städtische Aufwertung der Nachbarschaft ihres Ex-Freundes voraus.[12] Auch in Deutschland kann die Polizei zur Durchsetzung von Aufwertungs- und Verdrängungsdynamiken fungieren, etwa durch vergrößerte Polizeibefugnisse an „KbOs” oder fortwährenden Shishabar-Razzien in migrantischen Berliner Kiezen.[13] Legitimiert unter dem Aspekt der (Un-)Sicherheit, dem Generalverdacht „Clankriminalität“ und der sogenannten „organisierten Kriminalität“, werden bestimmte Lokalitäten seit Jahren von den Sicherheitsbehörden unter Druck gesetzt und kriminalisiert.[14] So wird Platz gemacht für „produktivere und sauberere“ Gewerbe mit höheren Mieten, die wiederum den gesamten Stadtteil „aufwerten”.[15] Eine abolitionistische Perspektive zeigt also auch: ein Kampf um die Stadt, inklusive bezahlbarem Wohnen, ist gleichzeitig ein Kampf gegen Polizei(gewalt) und umgekehrt: Wohnungspolitik ist Sicherheitspolitik.

Auch in der queeren Bewegung gibt es eine abolitionistische Tradition. Weitestgehend bekannt, hat sie ihren Ursprung im Widerstand gegen Polizeigewalt, auch wenn sie heute gerne davon losgelöst wird. Geschlecht und Sexualität werden aber weiterhin kriminalisiert und reguliert. Nicht zuletzt durch die sogenannten „Genderverbote“, doch auch über den Zugang zu medizinischer und reproduktiver Versorgung, dem Familienrecht, Sexualstrafrecht, Asylrecht oder dem sogenannten Prostitutionsschutzgesetz. Die abolitionistische Perspektive macht dazu deutlich, dass Gesetze gegen Diskriminierungen oder Hassverbrechen gegen LGBTQI-Personen vielmehr oft die Macht von Institutionen verstärken, indem sie in den Strafapparat rückinvestieren und insbesondere nicht-weiße Menschen diesem aussetzen. Mehr (oder reformiertes) Strafrecht beseitigt nicht die Gewalt in administrativen Regimen, im Jugendstrafvollzug, in psychiatrischen Kliniken, in Einwanderungsgefängnissen oder Obdachlosenunterkünften – alles Orte, an denen rassifizierte geschlechtsspezifische Normen kontinuierlich auferlegt werden.[16] Deswegen setzt der abolitionistische Organisierung dort an.

Organisierungsansatz

Insbesondere in den letzten Jahren organisieren sich immer mehr Menschen unter einem abolitionistischen Banner, nicht zuletzt, weil sich ein klarer Fokus auf die verschiedenen systemischen Gewaltverhältnisse ergibt, die die Krisen unserer Zeit befeuern. Die Aufstände nach dem Mord an George Floyd und die Bewegung für Schwarzes Leben seit 2020 haben die Forderung nach Abschaffung der Polizei weltweit populär gemacht; aus „ACAB“ wurde „Abolish the Police“. In Deutschland haben verschiedene Bewegungstraditionen den Weg für eine radikale abolitionistische Organisierung geebnet. Hier betrachten wir „neue“ abolitionistische Initiativen und zeichnen Bezüge zu abolitionistischen Praxen der 70er und 80er Jahre nach, um Abolitionismus als einen zentralen Organisierungsfokus in Deutschland zu unterstreichen.

Auch wenn die anhaltenden Proteste gegen Polizeigewalt der letzten Jahre zur Verbreitung abolitionistischer Analysen beigetragen haben, ging diesen Momenten kollektiver Wut und Trauer eine Bewegung gegen Rassismus und staatliche Gewalt voraus.[17] Aus der Kritik an rechtsextremen Netzwerken in den Sicherheitsbehörden, die schon im Rahmen der Organisierung zur Aufklärung der NSU-Morde laut wurde, entstanden wichtige Grundsteine für heutige polizeikritische Arbeit, an die verschiedene Gruppen politisch anknüpfen. Nach den rechtsextremen Anschlägen in Halle und Hanau wird nicht nur das Versagen der staatlichen Sicherheitsinstitutionen deutlich, sondern auch die Rolle der Polizei in der strukturellen Produktion von Unsicherheit für migrantisches Leben insgesamt thematisiert.[18] Hier setzt der Beitrag von Migrantifa Berlin in diesem Heft an und zeigt, warum dies nicht als Einzelfall, sondern als rassistische Methode des Kapitalismus verstanden werden muss.

Nicht zuletzt entspringt diese Analyse der Praxis von Gruppen, die sich heute und historisch in Deutschland für die Abschaffung von Polizei, Gefängnis und Grenzen sowie für Betroffene rassistischer Polizei- und Grenzgewalt einsetzen. Es gibt eine Vielzahl an Cop Watch-Gruppen und Initiativen, die Freunde und Familien von Menschen unterstützen, die von der Polizei getötet wurden, wie die Initiative Oury Jalloh, die Initiative Christy Schwundeck in Frankfurt, der Solikreis Justice4Mouhamed in Dortmund, die Initiative 2. Mai in Mannheim oder zuletzt „Justice for Ibrahima“ in Mülheim an der Ruhr. Diesen Initiativen geht es nicht nur um konsequente Aufklärung und Konsequenzen für die Täter*innen, sondern auch um strukturelle Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse, die die vorzeitigen Tode rassifizierter und verarmter Menschen normalisieren und ermöglichen.[19]

Die Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP) begleitet Betroffene und baut eine Brücke zu systemisch verankerten Rassismen der Justiz. In Berlin beschäftigen sich verschiedene Gruppen wie Justizwatch und kritische Jurist*innen damit, die Strafe als Instrument des rassistischen Kapitalismus zu überwinden. Das Justice Collective zeigt mit langfristiger Prozessbeobachtung, dass sogenannte „Massendelikte” wie Diebstahl einen Großteil der täglichen Arbeit der Strafgerichte ausmachen und belegt damit, dass Strafe nicht als Instrument der Gerechtigkeit gedacht ist, sondern bestehende Ungleichheiten erhält und systematisch verschlimmert.[20]

Im Zusammenhang der Produktion und Bestrafung von Armut stehen auch Erwerbsloseninitiativen wie BASTA, die sich gegen die willkürliche Gewalt des Job-Centers organisieren. Denn das Jobcenter, das für viele prekarisierte und verarmte Menschen zum Alltag gehört, hat nicht nur die Aufgabe, den Niedriglohnsektor mit billigen Arbeitskräften zu stabilisieren, sondern auch die Macht, willkürlich Sanktionen zu verhängen, die für die Betroffenen finanziell verheerend sein können und denen deshalb nicht selten Polizeigewalt bei Zwangsräumungen und Wohnungslosigkeit folgt.[21]

Die Gefangenengewerkschaft und die Gruppe „Criminals for Freedom“ kämpfen in Berlin solidarisch mit Gefangenen für eine Welt ohne Knäste. Sie beschreibt in ihrem Beitrag in diesem Heft, warum Gefängnisse nicht losgelöst von gesellschaftlichen Verhältnissen betrachtet werden können und zeigen auch die Schwierigkeiten abolitionistischer Arbeit und Unterstützungsarbeit auf.

Mit einer Verschärfung von innenpolitischer Law und Order Politik geht Militarisierung und Aufrüstung im Rahmen internationaler Sicherheitspolitik einher.[22] Als Organisierungsansatz, der stark von Antimilitarismus, Internationalismus und Antiimperialismus geprägt ist, schließt eine abolitionistische Praxis neben der Abschaffung von Polizei und Gefängnis auch Kritik globaler und (neo)kolonialer Versicherheitlichungsstrukturen ein und zielt somit auf die Abschaffung von Grenzen, militärische Abrüstung und ein Ende militarisierter Besatzungen ab.[23] Diese Perspektive hat in den letzten Jahren zu einer Internationalisierung von polizeikritischen Organisierungen beigetragen und wichtige Verbindungen klar gemacht.

Nicht trotz, sondern wegen der realen Bedrohungen, die von internationale Militärregimen und Rüstungsinteressen ausgeht, formiert sich in diesen Kontexten Widerstand, in dem alternative Sicherheitsbegriffe sowie die Frage nach Selbstschutz zentral sind.[24] Das kurdische Frauenbüro für Frieden Cenî beleuchtet in ihrem Beitrag in diesem Heft die Notwendigkeit der kollektiven Organisierung alternativer Sicherheit jenseits von Nationalstaatlichkeit und der damit einhergehenden gewaltvollen Repression der kurdischen Bewegung. Ma’ayan Ashash und Danna Marshall zeigen in ihrem Beitrag auf, wie die vermeintliche Sicherheit jüdischer Menschen als Grenzmechanismus genutzt wird, um rassistische staatliche Gewalt in der Migrations- und Einbürgerungspolitik oder der Unterdrückung widerständiger Organisierung auszubauen. No-Border Gruppen wie Abolish Frontex oder Abschiebezentrum BER verhindern kritisieren heute rein humanitäre Forderungen nach offenen Grenzen oder Seenotrettung, durch die Verantwortung für die anhaltende Enteignung des sog. Globalen Südens als Ursache der Abschottung unangefochten bleibt, wie Eve M. und Sophia D. in ihrem Beitrag darlegen.

Durch die Externalisierung von Grenzen werden (neo-)imperiale Interessen des sogenannten globalen Nordens stabilisiert und gleichzeitig im rassistischen Kapitalismus überflüssig gemachte Menschen in Lagern und Abschiebeknästen verwahrt.[25] Die systemische Gewalt, die Menschen so erfahren, wirkt sich auch auf ihr Zusammenleben aus und trifft nicht alle gleich, wie Bethi Ngari in diesem Heft berichtet. Gruppen wie Women in Exile fordern deswegen schon seit Jahrzehnten, dass Geflüchtete nicht länger an einer selbstbestimmten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gehindert werden dürfen. Die kollektive Organisierung geflüchteter Menschen äußert sich neben kollektivem Protest und Räumen (wie dem Oranienplatz in Berlin) auch in der Verweigerung der eigenen Abschiebbarkeit, durch Aufstände in Lagern und Abschiebeknästen sowie der Ablehnung paternalistischer Integrationsmaßnahmen.[26] Ihre Kämpfe zeigen, dass karzerale Methoden nicht nur zum „Schutz” der Festung Europa an den Außengrenzen, sondern auch zum „Schutz” der weißen bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland eingesetzt werden.

Hier wird sichtbar, dass abolitionistische Organisierung in Deutschland schon lange existiert und für heutige Bewegungen von zentraler Bedeutung ist. Diese historische Perspektive widerlegt die Behauptung, dass Abolitionismus nur außerhalb Deutschlands und Europas verwurzelt sei.

Während sich viele der „neueren” abolitionistischen Gruppen mit Polizei und Grenzen beschäftigen, wollen wir hier auf die Anti-Knast und Anti-Psychiatrie-Bewegungen in den 70er und 80er Jahren als abolitionistische Organisierungsformen hinweisen. Obwohl diese Bewegungen auch immer wieder damit zu kämpfen hatten, die spaltende Logik strafender Institutionen ganzheitlich infrage zu stellen (beispielsweise in Diskursen um „politische“ und „soziale“ Gefangene), wurden hier radikale Forderungen für eine Gesellschaft ohne Knäste gestellt.[27] Spätestens die internationalistische Organisierung der RAF brachte das Thema auf die Tagesordnung linker Gruppen.[28] Dabei ist auch die Organisierung in den Knästen selbst ein wichtiger Bezugspunkt gelebter abolitionistischer Praxis, durch die solidarische Beziehungen zwischen Gefangenen verschiedener Einrichtungen und über soziale Positionierung hinweg entstanden. Hierzu zählen diverse Hungerstreiks und „Meutereien“, aber auch Arbeitsstreiks und Organisierung in Gefangenenräten, die auch für die Organisierung „draußen“ von Bedeutung waren.[29] Im akademischen Bereich entwickelte sich zu dem Thema, entgegen der offiziellen Kriminologie, die Strafsysteme legitimierte,[30] die Kritische Kriminologie, die sich für Gefangene und gegen Gefängnisse einsetzte.[31] Viele dieser gefängniskritischen Theoretiker*innen ordneten sich einer marxistischen Tradition zu.[32]

Die Anti-Psychiatrie Bewegung in Deutschland prangerte gesellschaftliche Konstruktionen von Krankheit und gewaltvolle Institutionalisierung von krank gemachten Menschen an. Indem sie aufzeigten, dass psychische Krisen nicht durch Pathologien, sondern durch die Zwänge der kapitalistischen Gesellschaftsordnung verursacht werden, sprachen sie den geschlossenen Stationen des Maßregelvollzugs und den psychiatrischen Zwangsmaßnahmen ihre argumentative Daseinsberechtigung ab. Das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK) setzte sich für die Abschaffung der Psychiatrie und der „pathogenen kapitalistisch-patriarchalischen Gesellschaft“ ein und machte die „Krankheit zur Waffe“.[33] Gleichzeitig entstanden auch emanzipatorische „Krüppelkollektive“, die sich gegen die Integration in vermeintlich „normale“ Gesellschaftsnormen stellten und die Verwahrung in Anstalten sowie Zwangsarbeit in Werkstätten be­kämpften[34]. So schrieb die Krüppelzeitung schon 1979: „Wir wollen keine Almosen“ und forderte emanzipatorische Fürsorgestrukturen unabhängig von produktiv machenden und sanktionierenden Institutionen ein.[35]

Diese und weitere Kämpfe (es fehlen hier u. a. Gruppen, die sich mit strafender Pädagogik und Jugend- oder Drogenknästen beschäftigt haben sowie die Rosa und Schwarzen Hilfen) haben analytische Verbindungen zwischen sozialen Krisen und der staatlichen Gewalt geschaffen, die diese Krisen verursacht und mit weiterer Gewalt beantwortet. In Form eines Runden Tisches haben wir Aktivist*innen verschiedener hier genannter Traditionslinien zusammengebracht, um die teilweise vergessenen Kämpfe mit den neueren Abolitionismen ins Gespräch zu bringen.

Gegenwarts- und Zukunftsperspektive

Abolitionismus ist nicht nur Kritik, sondern auch Aufbau alternativer Sicherheitsstrukturen, die vermeintlich alternativlosen gewaltvollen Institutionen entgegenstehen. Wir wollen auf einige dieser Praktiken aufmerksam machen, insbesondere mit Fokus auf die Bedingungen für grundlegende Sicherheit, dem Aufbau von Schutzräumen und Ansätzen transformativer Gerechtigkeit.

Nicht alle Gruppen, die für antikarzerale, soziale Sicherheit kämpfen, bezeichnen sich selbst als Abolitionist*innen, dennoch kann ihre Arbeit als integraler Bestandteil abolitionistischer Visionen und Kämpfe verstanden werden. Auf verschiedenen Eben arbeiten sie daran, dass an die Stelle von organisierter Vernachlässigung organisierte Fürsorge in Form einer wirklich sozialen Infrastruktur tritt: Wohnraum, universelle Gesundheitsversorgung, Schutzräume, Bildung, Versorgungssicherheit. Das bedeutet nicht nur die De-Privatisierung dieser Grundbedürfnisse, sondern auch das gemeinschaftliche Arbeiten an den Beziehungen, die die Bedingungen für ein sicheres und gutes tägliches Leben schaffen. Eine Organisierung in und Umfunktionierung von bestehenden Institutionen läuft also neben der Stärkung von unterstützenden Beziehungen, wie Mutual Aid oder Kiez-Netzwerken.[36]

Beispielsweise ist bezahlbarer, zugänglicher und ausreichender Wohn­raum ein Kern sozialer Sicherheit. Nur wo die Möglichkeit eines langfristigen Aufbaus von sozialen Netzen ein ständiges Bangen um Existenz ersetzt, kann in nachbarschaftlichen Strukturen nachhaltig Sicherheit entstehen. Dabei ist klar, dass der Aufbau solcher Strukturen nur durch den gleichzeitigen Abbau von Gewaltinstitutionen realisierbar ist, etwa indem Wohnraum für alle ein Ende der Polizei als Akteur urbaner Verdrängung bedeutet.

Solche Doppelbewegungen, die zeigen, wie Aufbau von sozialer Sicherheit die Gewalt staatlicher Institutionen ersetzt, erkennen wir z. B. auch mit Blick auf die universelle Gesundheitsversorgung.[37] Damit der Schutz von Leben dabei im Mittelpunkt steht, darf die Behandlung physischer und psychischer Krankheiten nicht einer Profitlogik, Eingliederung ins kapitalistische System oder der Sicherung öffentlicher Ordnung unterliegen. Es ist Ausdruck eines rassistischen Verwertungssystems, dass migrantische und insbesondere Schwarze Menschen in psychischen Krisensituationen immer wieder von Polizist*innen getötet werden,[38] anstatt dass sie die eigentlich nötige Unterstützung und Versorgung erhalten. Abolitionist*innen bauen daher Strukturen eigener Gesundheitsversorgung auf. Insbesondere queere und Sexworker*innen-Kollektive spielen in dieser Tradition von Selbstorganisation für Sicherheit jenseits des Staates eine wichtige Rolle. Weltweit existieren Praxen und Gesundheitszentren, die das staatliche Gesundheitssystem umgehen und medizinische Versorgung als kollektive Aufgabe begreifen.[39] Solche Alternativen entstehen aufgrund einer konkreten Kriminalisierungserfahrung und der gleichzeitigen Verweigerung, lebensunwürdige Zustände einfach hinzunehmen.

In Zeiten gesellschaftlicher Faschisierung und damit zunehmender Gefahr für marginalisierte Gruppen sehen wir eine Verweigerung der Zustände und eine Rückeroberung in Form vorläufiger Schutzräume auch bei Besetzungen und Protesten. Gerade dann, wenn Alternativlosigkeit propagiert wird, zeigt sich an diesen Orten, dass kollektive Fürsorge möglich ist. (Wald-)Besetzungen widersetzen sich der fortschreitenden Ausbeutung der Natur und Zerstörung von Lebensgrundlagen und bauen gleichzeitig Versorgungsstrukturen auf. Besetzungen von Universitäten widersetzen sich der anhaltenden Entmenschlichung palästinensischen Lebens und gestalten Räume für kollektive Bildung. Im Organisieren gegen tödliche Gewalt, wie dem Genozid in Palästina, aber auch Sudan und Kongo, werden kollektive Kämpfe für das Leben über Grenzen und Geographien hinweg erprobt.[40]

In Bezug auf interpersonelle Gewalt stehen hier aus abolitionistischer Perspektive Themen der gemeinschaftlichen Verantwortungsübernahme, Wiedergutmachung sowie Ver- und Bearbeitung zwischenmenschlicher Gewalterfahrungen durch Prozesse transformativer Gerechtigkeit im Fokus.[41] Konzepte transformativer Gerechtigkeit wurden zentral von Schwarzen und Indigenen Feminist*innen erdacht, die sich auf staatliche Sicherheit nicht verlassen konnten.[42] In der für den deutschen Raum zentralen Veröffentlichung „Was macht uns wirklich sicher?“[43] wird dafür argumentiert, ein negatives Verständnis von Sicherheit zu überwinden, das sich vor allem zur Abwehr, Abstrafung und Abschottung von externen Gefahren bildet, während in einem positiven Verständnis versucht wird, kollektive Handlungsschritte zu finden und aufzubauen. Transformative Gerechtigkeit kann als ganzheitlicher Prozess verstanden werden, der neben der Frage nach unmittelbaren Folgen den Fokus auf die Wurzeln von Gewalt und Unrecht legt, um dauerhaft positive Veränderungen zu schaffen. Gegen den Strafrechtsfeminismus, der für den Umgang mit sexualisierter Gewalt mehr Polizei und eine erweiterte Strafgesetzgebung erwirkt, steht ein Fokus auf die Zwänge, die Gewalt beispielsweise in Familien systematisch ermöglichen, sowie direkte zivilgesellschaftliche Interventionsmöglichkeiten, Ressourcen und Schutzräume.

Es ist klar, dass diese Arbeit nicht einfach oder reibungslos ist. Dies kommt auch in einigen Beiträgen dieses Heftes zum Ausdruck. Daher analysieren Abolitionist*innen und Revolutionär*innen aus unterschiedlichen Traditionen nicht nur Geschichte und Funktion des rassifizierten Kapitalismus, sondern stellen sich Fragen von zwischenmenschlichem Umgang und der Bedeutung von Genoss*innenschaft.[44] Im Vordergrund steht so auch immer der Gedanke, dass der Aufbau einer Welt, die alles Leben schützt und wertschätzt, ein Prozess und eine Praxis ist, die uns auch als Individuen und Kollektive verändert.

[1]   James, C. L. R.: The Black Jacobins: Toussaint L’Ouverture and the San Domingo Revolution, New York 1963; Du Bois, W. E. B.: Black Reconstruction: An Essay Toward a History of the Part Which Black Folk Played in the Attempt to Reconstruct Democracy in America, 1860-1880, New Brunswick 2012
[2]   Loick, D.; Thompson, V. E. (Hg.): Abolitionismus: ein Reader, Berlin 2022 (2. Aufl.)
[3]   Gilmore, R.: Golden Gulag: Prisons, Surplus, Crisis and Opposition in Globalizing California, Berkeley 2007
[4]   Gilmore, R. W.; Murakawa, N.: Covid 19, Decarceration, and Abolition, www.youtube.com/watch?v=hf3f5i9vJNM
[5]   https://ersatzfreiheitsstrafe.de
[6]   Gorz, A.: Strategy for Labor: A Radical Proposal, Boston 1967; Kaba, M.: We Do This ‘Til We Free Us: Abolitionist Organizing and Transforming Justice, Chicago 2021
[7]   Keller, N.: Wer hat Angst vorm Kottbusser Tor? Zur Konstruktion „gefährlicher“ Orte, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 115 (April 2018), S. 18-24 (18)
[8]   Petzen, J.: Community Accountability: Möglichkeiten und Grenzen Sozialer Arbeit jenseits von karzeralen Tendenzen, in: Prasad, N. (Hg.): Methoden struktureller Veränderung in der Sozialen Arbeit, Berlin 2023, S. 148-161
[9]   Wacquant, L.: Crafting the Neoliberal State Workfare, Prisonfare and Social Insecurity, in: Sociologie Românească 2010, H. 8, S. 5-23
[10]   Roberts, D.: Torn Apart: How the Child Welfare System Destroys Black Families – and How Abolition Can Build a Safer World, New York 2022; kitchen politics (Hg.): Mehr Als Selbstbestimmung! Kämpfe Für Reproduktive Gerechtigkeit, Münster 2021
[11]   Vitale, A.: The End of Policing, London 2017
[12] Roy, A.: Undoing property: Feminist struggle in the time of abolition, in: Society+ Space 3.5.2021
[13] Chahrour, M. A. u.a. (Hg.): Generalverdacht: Wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird, Hamburg 2023
[14] Rauls, F.: Der administrative Ansatz, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 129 (August 2022), S. 13-21
[15] www.linksfraktion-neukoelln.de/positionen/themen/shisha-bar-razzien; Flierl, L.: The Long Shadow of the Repressive State: Militarized Policing and the Eviction Crisis, in: Environment and Planning C: Politics and Space 6.7.2023
[16] Spade, D.: Normal Life: Administrative Violence, Critical Trans Politics & The Limits of Law, Durham 2015
[17] Cremer-Schäfer, H.: Alternativen von Strafrecht und Polizei: Eine ernüchternde Geschichte, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 125 (April 2021), S. 14-22
[18] Zu viele betrachten diesen Anschlag als einen Einzelfall, www.zeit.de v.19.2.2021.
[19] Warum gibt es vor Gericht keine Gerechtigkeit?, www.justice4mouhamed.org v. 21.5.2024
[20] Wenn Armut strafbar wird, herrscht Klassenjustiz, www.jacobin.de v.26.4.2022
[21] European Action Coalition for the Right to Housing and to the City, Resisting evictions across Europe, Brussels 2016
[22] Besatzung für Gentrifizierung, www.artsoftheworkingclass.org v. 3.5.2023
[23] Acheson, R.: Abolishing State Violence: A World Beyond Bombs, Borders, and Cages, Chicago 2022
[24] Rodríguez, D.: Abolition as Praxis of Human Being: A Foreword, in: Harvard Law Review 2019, H. 6, S. 1575-1612
[25] Danewid, I.: „These Walls Must Fall”: The Black Mediterranean and the Politics of Abolition, in:  Proglio, G. u.a.(Hg.): The Black Mediterranean: Bodies, Borders and Citizenship, Cham 2021, S. 145-166
[26] Carstensen, A. L. u.a.: Der Zwang zur Arbeit. Verwertungslogiken in den umkämpften Regimen der Anwerbe-, Flucht- und EU-Migration, Duisburg-Essen 2018
[27] Malzahn, R. (Hg.): Strafe und Gefängnis: Theorie, Kritik, Alternativen. Eine Einführung, Stuttgart 2022
[28] Schulz, J.-H.: Unbeugsam hinter Gittern: Die Hungerstreiks der RAF nach dem Deutschen Herbst, Frankfurt/Main 2019
[29] Kollektiv Rote Hilfe München: Entwurf einer Magna Charta für alle Internierten in Gefängnissen, psychiatrischen Anstalten, Fürsorge- und Erziehungsheimen, München 1976
[30] Cremer-Schäfer, H.; Steinert, H.: Soziale Ausschließung und Ausschließungs-Theorien: Schwierige Verhältnisse, in: Peters, H. (Hg.): Soziale Kontrolle: Zum Problem der Normkonformität in der Gesellschaft, Wiesbaden 2000, S. 43-64
[31] Stehr, J.: Kritische Kriminologie als ideologiekritisches Projekt, in Anhorn, R. u.a (Hg.): Kritik der Sozialen Arbeit – kritische Soziale Arbeit,Wiesbaden 2012, S. 431-448
[32] Steinert, H.: Marxsche Theorie und Abolitionismus. Aufforderung zu einer Diskussion“, in: Kriminalsoziologische Bibliografie 1987, H. 55/56, S. 131-158
[33] Sozialistisches Patientenkollektiv: SPK – aus der Krankheit eine Waffe machen: Eine Agitationsschrift des Sozialistischen Patientenkollektivs an der Universität Heidelberg, München 1979 (4. Aufl.)
[34] Gerber, E. u.a. (Hg.): Behinderten-Emanzipation: Körperbehinderte in der Offensive, Basel 1984
[35] www.archiv-behindertenbewegung.org
[36] Gilmore, R. W.: Abolition Geography: Essays Towards Liberation, London 2023
[37] Adler-Bolton, B.; Vierkant, A.: Health Communism, London, New York 2022
[38] s. hierzu https://polizeischuesse.cilip.de
[39] Gleeson, J. J.; O’Rourke, E.: Transgender Marxism, London 2021, s. a.: www.frauenzentrum-schokofabrik.de/unterm-schokodach/casa-kua
[40] hier zu erwähnen: „Maroon Abolitionist Knowledge“, z. B. in Ben-Moshe, L.: Dis‐epistemologies of Abolition in: Critical Criminology 2018, S. 341-355
[41] Rabe, B.: Alternativen zu Knast und Strafe, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 125 (April 2021), S. 23-31
[42] Diese Ansätze werden im deutschen Kontext vom Transformative Justice Kollektiv Berlin aufgenommen: Das Risiko wagen – Strategien für selbstorganisierte und kollektive Verantwortungsübernahme bei sexualisierter Gewalt, Berlin 2014 (Übersetzung eines der Gründungstexte der „Community Accountability“, ursprünglich verfasst von einem Kollektiv von Frauen of Color von „Communities Against Rape and Abuse (CARA)” (2006).
[43] Brazzel, M. (Hg.): Was macht uns wirklich sicher?, Münster 2019
[44] Beispielsweise das Prinzip der kurdischen (Selbst-)Kritik; mehr dazu bei Tekoşîna Anarşîst: Tekmil: A Tool For Collective Reflection, https://theanarchistlibrary.org/library/tekosina-anarsist-tekmil-a-tool-for-collective-reflection oder Brown, A. M.: We Will Not Cancel Us: And Other Dreams of Transformative Justice, Chico, Edinburgh 2022.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert