Clankriminalität und Migrationsrecht – Eine Sache des Ermessens

von Karsten Lauber

Mit Restriktionen auf dem Arbeitsmarkt und für den Bildungszugang verdeutlichte die westdeutsche Verwaltung nicht wenigen der Geflüchteten die Perspektivlosigkeit ihres Lebens in Deutschland.

Die Clankriminalität bietet sich als idealtypisches Modell für eine Vielzahl kriminologischer Analysen an.[1] Auffällig ist jedoch bis dato, wie ähnlich sich etliche dieser Aufsätze sind, von denen nicht wenige vornehmlich auf Zeitungsartikel oder populärwissenschaftliche Literatur Bezug nehmen. Wiederkehrend anzutreffen sind generalisierende Ausführungen zum Migrationsrecht der 1980er Jahre, wobei typische Kernaussagen lauten: Die Zugewanderten aus dem Libanon befanden sich im Status einer ausländerrechtlichen Duldung in Westdeutschland, die sich zu Kettenduldungen summierten; die betroffenen Personen unterlagen damit verschiedenen Restriktionen wie „Arbeitsverboten“ oder fehlender Schulpflicht für die Kinder. Für die interdisziplinäre Kriminologie sind derart verkürzte Befunde wenig zufriedenstellend, zumal ausländerrechtliche Fachliteratur zu oft unberücksichtigt bleibt.

Vor diesem Hintergrund befasst sich dieser Beitrag mit migrationsrechtlichen Aspekten der Clankriminalität, denn die Geschichte der Clankriminalität stellt sich im Wesentlichen als Geschichte des westdeutschen Ausländerrechts dar, insbesondere der aufkommenden Debatte um die Gefahr der „Überfremdung“ durch die verstärkte Einreise von Asylbewerber*innen ab den 1970er Jahren. Anstatt einer Kritik an der damaligen Gesetzeslage steht die Befugnis zur Normsetzung sowie die Entscheidungspraxis der Exekutive im Vordergrund der Analyse, die ihre Schwerpunkte auf die ausländerrechtliche Duldung und die Arbeitserlaubnis für Migrant*innen legt. Die dazugehörige Hypothese lautet: Die Verwaltung leistete mit ihrer eigenen Normensetzung und Ermessensausübung auf dem Gebiet des Migrationsrechts einen Beitrag zur Entstehung der Clankriminalität. Es werden verschiedene exkludierende Auswirkungen nachgewiesen, die sich insbesondere im Bereich der Erwerbstätigkeit und institutioneller Zugänge kriminalitätsfördernd ausgewirkt haben könnten.

Rekapitulieren wir zunächst die Rahmenbedingungen für die Zeit zwischen den 1970er und dem Ende der 1980er Jahre. Bis 1990 galt in Westdeutschland das Ausländergesetz vom 28. April 1965 (AuslG 1965), das der Exekutive im Allgemeinen und den Ausländerbehörden (ABH) im Besonderen ein umfangreiches Ermessen einräumte; dies erwies sich wiederkehrend als ein (rechtsstaatsproblematischer) Makel, wobei sich der Gesetzgeber erst mit dem Ausländergesetz vom 9. Juli 1990 veranlasst sah, die Gestaltungsfreiheit der Verwaltung zu begrenzen.

Nach dem Anwerbestopp 1973 bestand ein parteiübergreifender Konsens, wonach eine weitere Zuwanderung die Aufnahme- und Integrationskapazitäten der BRD überfordern würde. Darüber hinaus galt erst recht nach dem Anstieg der registrierten Asylanträge ab 1974: Eine weitere Zuwanderung läuft der Integration der bereits in Westdeutschland aufhältigen ausländischen Bevölkerung zuwider. In den ausländerpolitischen Debatten der 1970er und 1980er Jahre wegen der Gefahr der „Überfremdung“ und der Überforderung der Gesellschaft trat die Perspektivlosigkeit der Bürgerkriegsflüchtlinge in Westdeutschland offen zutage.

Zuzug nach Westdeutschland

Kamen bis 1973 die meisten Asylbewerber*innen noch aus Osteuropa, reisten ab 1974 zunehmend Personen aus dem Nahen Osten ein, die meisten aus dem Libanon. Der Anstieg nichteuropäischer Asylbewerber*innen und die geringe Anerkennungsquote befeuerte den Diskurs um den Asylmissbrauch und die Integrationskraft Deutschlands („Das Boot ist voll“). Auf den drei Ebenen Zuzugsbegrenzung, Rückkehrförderung und Integration sollte dem Ausländerproblem begegnet werden. Die bereits hinreichend rezipierte Bedeutung des Schlupflochs Berlin für die Einreise nach Westdeutschland lässt sich bis Anfang der 1970er Jahre gut nachweisen. Der Anteil der Asylbewerber*innen, die über West-Berlin in die BRD einreisten, betrug beispielsweise 1973: 33%, 1977: 59% und 1983: 28%. Ursächlich für diesen Weg, der über den Ost-Berliner Flughafen Schönefeld und den S-Bahnhof Friedrichstraße in den Westteil der Stadt führte, waren günstige Konditionen der DDR-Fluggesellschaft Interflug und die fehlenden Grenzkontrollen beim Übergang vom Ost- in den Westsektor der Stadt.[2] Die Bedeutung dieses Reiseweges stieg mit der Ausweitung der Sichtvermerkspflicht für bestimmte Länder wie Afghanistan und Sri Lanka Anfang der 1980er Jahre. Ausschlaggebend war die Vorgehensweise der DDR-Behörden, auch für diejenigen Personen ein Transitvisum auszustellen, die nicht über das erforderliche Einreisevisum für den westlichen Zielstaat verfügten. 1986 entfiel das Zwischenlandungsprivileg[3] für weitere Länder wie dem Libanon durch eine Änderung der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes, so dass für die einmalige Zwischenlandung im Bundesgebiet eine (Transit-)Sichtvermerkspflicht erforderlich wurde. Begründet wurde die Einführung dieser Regelung mit dem Missbrauch des Zwischenlandungsprivilegs für unerlaubte Einreisen.

Die Wiedereinführung der Sichtvermerkspflicht stand im Zusammenhang mit einem Bündel an Maßnahmen zur Eindämmung des Asylmissbrauchs, zu dem auch ein Sofortprogramm der Bundesregierung zählte, das neben gesetzgeberischen vor allem flankierende administrative Maßnahmen implementierte. Zu den administrativen Maßnahmen lassen sich neben der Einführung des Visumzwangs auch die Streichung des Kindergelds für Asylbewerber*innen oder Leistungsbeschränkungen bei der Sprachförderung durch Änderungen der Sprachförderungsverordnung zählen.

Im politischen Diskurs befanden sich die Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Libanon, die zwar kein Asyl erhielten, jedoch aus politischen, humanitären oder rechtlichen Gründen nicht abgeschoben werden konnten (sog. De-facto-Flüchtlinge), in der Kategorie derjenigen, denen pauschal Asylmissbrauch vorgeworfen wurde. Zum 31. Dezember 2001 befanden sich 49.109 Staatsangehörige aus dem Libanon in Deutschland (59% Männer, 41% Frauen), darunter 13.937 (28%) in Deutschland geborene. Jede zehnte Person mit libanesischer Staatsangehörigkeit hielt sich zu diesem Zeitpunkt noch geduldet in Deutschland auf. Die meisten besaßen eine befristete Aufenthaltserlaubnis (26%) oder eine Aufenthaltsbefugnis (28%), die nach § 30 AuslG (1990) aus völkerrechtlichen humanitären oder politischen Gründen erteilt wurde.[4] Mit dieser Norm konnte eine Aufenthaltsbefugnis statt einer Duldung erteilt werden, um einen Aus-stieg aus dem System der Kettenduldungen zu ermöglichen; perspektivisch bestand damit auch die Möglichkeit, den Aufenthalt zu verfestigen. Dennoch kam die überwiegende Zahl libanesischer Staatsangehöriger auch nach einem längeren Aufenthalt in Deutschland und diverser Altfallregelungen nicht in den Genuss einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis.

Duldung

Die Einführung eines Duldungstatbestandes erfolgte gemäß § 17 Abs. 1 AuslG (1965) mit dem Ziel, den Aufenthalt von Ausländern „bis zu ihrer Abschiebung zu legalisieren und ihnen die Möglichkeit zu geben, ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen“.[5] Für die folgenden Ausführungen sind vier Aussagen von Bedeutung: Erstens wurde der Aufenthalt durch die Duldung nicht rechtmäßig, denn sie sollte – zweitens – lediglich den Aufenthalt in der BRD ohne Gesetzesverstoß ermöglichen. Drittens beseitigte die Duldung, d. h. die zeitweise Aussetzung der Abschiebung, nicht die Pflicht zum unverzüglichen Verlassen der BRD und viertens – und das gilt bis heute – stellt die Duldung keinen Aufenthaltstitel dar. Eine Duldung kam beispielsweise in Betracht, wenn der Staat, in den die ausländische Person abgeschoben werden sollte, die Aufnahme verweigerte oder wenn humanitäre oder politische Gründe der Abschiebung zeitweise entgegenstanden. Die Norm eröffnete den ABH einen weiten Spielraum in der Rechtsanwendung. In der Regel war die Duldung auf sechs Monate befristet, räumlich beschränkt und konnte mit Auflagen versehen werden. Als Dauerduldung war die Aussetzung der Abschiebung nicht konzipiert. Gleichwohl erhielt die Duldung in den nächsten Jahrzehnten eine doppelte Funktion: neben ihrer eigentlichen Zweckbestimmung, der vorübergehenden Aussetzung der Abschiebung, entwickelte sie sich zu einem „subsidiäre(n) Aufenthaltstitel für Fälle faktischer Aufenthaltsgewährungen“.[6] Die Problematik der Kettenduldungen bekamen Gesetzgeber und Verwaltung bis heute nie in den Griff, obwohl das Bundesverwaltungsgericht bereits 1990 bemerkte, dass ein längerer Aufenthalt einer ausländischen Person einer angemessenen „ausländerbehördlichen“ Regelung bedarf und die Duldung hierfür „nicht ohne weiteres das geeignete Mittel darstellt“.[7] So weist etwa das Statistische Bundesamt noch für das Berichtsjahr 2019 bundesweit 203.420 Duldungsinhaber*innen aus EU- bzw. EFTA-Drittstaaten aus, wobei für 35% eine Aufenthaltsdauer von mehr als 5 Jahren und für 12% von 10 Jahren und mehr registriert ist.

Anders als häufig kolportiert, ermöglichte § 17 AuslG (1965) in Verbindung mit § 5 Abs. 2 Arbeitserlaubnisverordnung (AEVO) auf dem Ermessensweg die Erteilung einer Arbeitserlaubnis für Geduldete zur Bestreitung des Lebensunterhaltes. Begreift man die Duldung als Maßnahme des Vollstreckungsrechts, die erst dann in Frage kam, wenn die betroffene Person zum Verlassen des Bundesgebietes verpflichtet war, ist es wenig überzeugend, wenn im zeitgenössischen Schrifttum zur Clankriminalität wiederkehrend der Hinweis anzutreffen ist, wonach in Berlin angekommene Flüchtlinge gleich eine Duldung beantragt hatten; plausibler erscheint hingegen der Rekurs auf die unterbliebene Stellung eines Asylantrags mit dem Ziel, der Verteilung auf die Bundesländer zu entgehen und damit innerhalb ihrer Community verbleiben zu können.

Bis zum Inkrafttreten des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) 1982 und der damit einhergehenden Einführung der Aufenthaltsgestattung war es strittig, weshalb viele ABH im Asylverfahren keine Aufenthaltserlaubnis, sondern nur eine Duldung erteilten. Diese im Ermessen der ABH liegende Unsitte bezog sich ebenso auf De-facto-Flüchtlinge, die sich nicht (mehr) im Asylverfahren befanden und sich nach damaligem Recht in einer Grauzone bewegten. Mit ihrem unsicheren (geduldeten) Status erlitten die De-facto-Flüchtlinge über Jahre hinweg Benachteiligungen bei Integrations- und Qualifizierungsangeboten. Ausschlaggebend dafür war insbesondere das o.a. Sofortprogramm der Bundesregierung.

Altfallregelungen

Seit den 1980er Jahren gibt es immer wieder Altfallfallregelungen zum Erwerb von Aufenthaltstiteln für langjährig Geduldete, die als faktisch integriert gelten – beispielsweise auf der Grundlage von Erlassen, die auf Beschlüsse der Innenministerkonferenz (IMK) Bezug nehmen, oder auf gesetzlicher Grundlage. Insbesondere die Beschlüsse der IMK, der „Schaltstelle für die exekutive Ausgestaltung der Ausländerpolitik“,[8] verdeutlichen, in welchem Umfang über Jahrzehnte hinweg die Entscheidungen in den sicherheitspolitischen Raum verlagert werden. Als Vorreiter derartiger Altfallregelungen gilt West-Berlin. Von den beiden ersten Berliner Altfallregelungen aus den Jahren 1984 und 1987 verdient die letztere besondere Aufmerksamkeit. Diese Regelung vom 1. Oktober 1987 definierte zwei Zielgruppen: Einerseits Ausländer*innen aus dem Libanon und andererseits Ausländer*innen aus anderen Staaten als dem Libanon. Zu den verschiedenen Abhängigkeiten (aufenthaltsrechtliche Voraussetzungen zu einem bestimmten Stichtag, Lebensalter, Familienstand) zählte insbesondere das Nichtvorliegen bestimmter Vorstrafen. Zu den Straffälligkeiten, die der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entgegenstanden, zählten Freiheits-/Jugendstrafen von mindestens einem Jahr (vor dem 1.1.1981) bzw. von drei Monaten oder einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen (nach dem 1.1.1981). Hervorzuheben ist, dass als Straftäter*in im Sinne dieser Weisung auch Kinder galten, „die serienmäßig Straftaten begehen, jedoch wegen Strafunmündigkeit nicht verurteilt werden können“. Für deren Eltern kam die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auch dann nicht in Betracht, wenn diese alle Voraussetzungen erfüllten, „weil zu vermuten ist, daß die Erwachsenen die Kinder zu ihren Straftaten angehalten oder diese zumindest geduldet haben“.[9] Die Aufenthaltserlaubnis wurde zunächst für ein Jahr erteilt und im Anschluss daran zweimal für je zwei Jahre befristet. Erst nach fünf Jahren, war eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis möglich. Bezüglich der kriminalitätsbezogenen Familienhaftung beinhaltete der Bleiberechtsbeschluss der IMK vom 17. November 2006 eine ähnliche Einschränkung wie die Berliner Regelung. Darin haftete die gesamte Familie für die Straffälligkeit ihrer Mitglieder: „Bei Ausschluss eines Familienmitglieds wegen Straftaten erfolgt grundsätzlich der Ausschluss der gesamten Familie“.

„Arbeitsverbot“

Die Möglichkeit zur Erwerbstätigkeit ist eng mit dem Instrument der Duldung verknüpft. Die AEVO vom 2. März 1971 regelte in § 5 Abs. 2 ausdrücklich den Fall der Duldung: Die Arbeitserlaubnis kann auch an nicht-deutsche Arbeitnehmer*innen erteilt werden, die geduldet sind. Dem folgte zunächst auch die Bundesanstalt für Arbeit (BA) mit ihrem Erlass vom 14. März 1975, der „auch künftig“ davon ausging, Asylbewerbern*innen eine Arbeitserlaubnis erteilen zu können, selbst dann, „wenn gegen die Beschäftigungsaufnahme aus Arbeitsmarktgründen Bedenken bestehen“.[10] Der daran anschließende Paradigmenwechsel resultierte (a) aus dem Anstieg der Zahl an Asylbewerbern*innen und (b) einer allgemeinen Skandalisierung der als unbegründet oder missbräuchlich gestellten Asylanträge. Der Sprachgebrauch dieser Zeit lässt sich gut anhand eines Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Münster aufzeigen: „Jedenfalls ist es – zumal in einer Zeit, in der das Bundesgebiet von Asylbewerbern überflutet wird und sich die Mehrzahl der Asylanträge als unbegründet oder gar rechtsmißbräuchlich darstellt – mit dem Grundrecht auf Asyl vereinbar, einem Asylbewerber für die Dauer des Anerkennungsverfahrens die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht zu gestatten und ihn auf die Inanspruchnahme der Sozialhilfe zu verweisen“.[11] In der Verwaltungspraxis verhinderten in der Folge verschiedene Stichtags- und Wartezeitregelungen sowie Vorrangprüfungen zugunsten deutscher oder EU-Arbeitnehmer*innen die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, insbesondere für geduldete Asylbewerber*innen. Die Ablösung der problematischen Stichtagsregelung durch eine individuelle Wartezeitregelung erfolgte per Schnellbrief der BA zum 1. April 1979. Ein weiterer Erlass der BA vom 19. Juni 1980 beinhaltete die Anordnung an die Arbeitsämter, Asylbewerbern*innen im ersten Jahr ihres Aufenthalts in Westdeutschland keine Arbeitserlaubnis zu erteilen. Mehrere Sozialgerichte vertraten hingegen die Auffassung, der norminterpretierende Erlass der BA würde nicht im Einklang mit § 19 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) stehen, zumal das Bundessozialgericht bereits 1977 feststellte, dass § 19 Abs. 1 Satz 2 AFG keine Ermessensvorschrift darstellt, sondern einen Anspruch auf Erteilung der Arbeitserlaubnis gewährt. Der Gesetzgeber reagierte auf die justiziell proklamierte Rechtswidrigkeit des Erlasses mit dem Wartezeitgesetz und einer Änderung des § 19 AFG, der für die erstmalige Beschäftigung von (auch geduldeten) Migrant*innen eine gesetzlich verankerte Wartezeit einführte. Die Konkretisierung der Wartezeiten kam mit der 6. Verordnung zur Änderung der AEVO und brachte eine Schlechterstellung von Asylbewerber*innen (mit einer 2-jährigen Wartezeit bis zur erstmaligen Aufnahme einer Beschäftigung) gegenüber denjenigen Asylbewerbern*innen, bei denen von vornherein feststand, dass sie auch im Falle der Ablehnung des Antrags nicht ausgewiesen oder abgeschoben werden konnten (in diesen Fällen betrug die Wartezeit lediglich ein Jahr). Ein politischer Flüchtling konnte also bei der Ablehnung des Asylantrags schneller zu einer Arbeitserlaubnis kommen als bei einer Anerkennung. 1987 erhöhte sich die Wartezeit für Asylbewerber*innen durch die Einfügung des neuen § 19 Abs. 1a AFG auf fünf Jahre. Das Wartezeitgesetz brachte zudem mit § 19 Abs. 2 AFG eine „ausländerrechtlich motivierte Arbeitsmarktsperre“[12] und legitimierte die bereits etablierte Praxis der Verwaltung, Asylbewerbern*innen die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit per Auflage in der Duldung zu untersagen, und eröffnete den ABH damit erstmals Einfluss auf die Arbeitsmöglichkeiten von Migrant*innen.

Schulpflicht

Abschließend zur Schulpflicht, da mitunter kolportiert wird, mit der Einführung des AsylVfG wäre die Schulpflicht aufgehoben worden. Spätestens seit dem Beschluss der Bundesregierung vom 19. März 1980 zur Weiterentwicklung der Ausländerpolitik war der problematische Befund offensichtlich: Rund 20% der schulpflichtigen „Ausländerkinder“ besuchten keine allgemeinbildenden und 50% keine berufsbildenden Schulen; über die Hälfte der Jugendlichen erreichte keinen Hauptschulabschluss. Zwei Kernaussagen dazu: Die Schulpflicht normiert der Bund erstens nicht auf der Ebene des Migrationsrechts, sondern die Länder regeln dies in ihren Schulgesetzen und Verwaltungsvorschriften. Zweitens ist zu differenzieren zwischen der Schulpflicht und dem Recht auf Schulbesuch. Gleichwohl ist die Herstellung eines migrationsrechtlichen Bezugs bei der Frage nach der Schulpflicht richtig, soweit das Landesschulrecht einen rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet voraussetzt. Der erste Schritt müsste allerdings in das Sozialgesetzbuch I und die dortige Legaldefinition des Wohnsitzes bzw. des gewöhnlichen Aufenthalts führen. Der zweite Schritt rekurriert dann auf das Migrationsrecht, da der gewöhnliche Aufenthalt von Nichtdeutschen von ihrem aufenthaltsrechtlichen Status abhängt. Der Aufenthaltsgestattung für Asylantragsteller*innen nach § 19 Abs. 1 AsylVfG und der Duldung für abgelehnte Asylbewerber*innen nach dem AuslG (1965) ist gemeinsam, dass sie an einen vorübergehenden Zweck anknüpften, so dass grundsätzlich nicht von einem gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland auszugehen war. In Abhängigkeit des jeweiligen Gesetzeszwecks kann die Prüfung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Es verwundert nicht, dass die Normenvielfalt zur Regelung der Schulpflicht und des Schulbesuchsrechts in der föderalen Struktur jahrzehntelang vielfältige Praktiken hervorbrachte, insbesondere für Geduldete und Asylbewerber*innen. Noch Anfang 2005 gab es acht Bundesländer, in denen Kinder von Geflüchteten mit dem o.a. unsicheren Aufenthaltsstatus von der Schulpflicht ausgenommen waren. Die Nachteile eines bloßen Schulbesuchsrechts sind vielfältig und gerade Eltern mit mangelnden Kenntnissen von Sprache und Gesellschaftsordnung dürften mit dieser Situation überfordert gewesen sein. Dabei hätte schon damals deutlich sein müssen, dass aus pädagogischen Gründen die Beschulung immer förderlich ist und demgegenüber die Erschwerung des Schulbesuchs nie sachgerecht sein kann und zu schwer bis kaum nachzuholenden Defiziten führt. Davon ausgehend, dass Bildung überall hin mitgenommen wird, wäre diese Investition sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene – auch im Falle einer späteren Aufenthaltsbeendigung – zielführend gewesen.

Resümee

Bereits dieser kursorische Streifzug durch das Migrationsrecht zeigt das Ausmaß an Restriktion im Verantwortungsbereich der Verwaltung. Ausgehend vom defizitären aufenthaltsrechtlichen Status resultierten Ausgrenzungen auf dem Arbeits-, Benachteiligungen auf dem Wohnungsmarkt sowie bei Sozialleistungen oder dem Zugang zu Bildungseinrichtungen. Damit verdeutlichte die Verwaltung gegenüber nicht wenigen Geflüchteten die Perspektivlosigkeit ihres Lebens in Westdeutschland und definierte Zuwanderung generalisierend als Ausländerproblem. Die Folgen dieser generationenübergreifenden Versäumnisse wirken auf dem Gebiet der Clankriminalität bis heute nach. Verstehen wir Arbeiten und Wohnen als Hauptfelder der sozialen Integration, so lautet die Antwort auf die dieser Analyse zugrundeliegende Hypothese: Die Verwaltung leistete mit ihrer eigenen Normensetzung und Ermessensausübung auf dem Gebiet des Migrationsrechts einen Beitrag zur Entstehung der Clankriminalität, indem sie die Tür zur sozialen Integration verschloss.

[1]    Der Begriff wird in diesem Beitrag als Neologismus behandelt. Auf die Hinzufügung eines konstruktivistisch gedachten „sog.“ wird verzichtet (sog. Clankriminalität).
[2]     vgl. Dittberner, J.: Asylpolitik und Parlament: Der Fall Berlin, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1986, H. 2, S. 167-181 (S. 167ff.)
[3]     Darunter wird die Befreiung von der Aufenthaltserlaubnispflicht und vom Passzwang für eine einmalige Zwischenlandung in der BRD verstanden, unabhängig davon, ob die Fluggäste über die für die Einreise in das Zielland erforderlichen Papiere verfügen oder nicht.
[4]    vgl. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen über die Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland 2000, S. 433
[5]    BT-Drs. IV/868 v. 28.12.1962, S. 11
[6]    BT-Drs. 11/6321 v. 27.1.1990, S. 48
[7]    Bundesverwaltungsgericht: Urteil v. 16.10.1990, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1991, H. 8, S. 787-789 (788)
[8]    Thym, D.: Migrationsverwaltungsrecht, Tübingen 2010, S. 60
[9]     vgl. Weisung des Berliner Senators für Inneres zur Regelung des Verbleibs von Ausländern („Altfall-Regelung“) vom 1.10.1987; Erfahrungsbericht über die Umsetzung der Weisung vom 10.2.1988, in: Informationsbrief Ausländerrecht 1988, H. 5, S. 140-141
[10] vgl. Heine, R.; Marx, R.: Ausländergesetz mit neuem Asylverfahrensrecht, Baden-Baden 1978, S. 238
[11]   OVG Münster: Beschluss v. 23.7.1980, in: Neue Juristische Wochenschrift 1980, H. 48, S. 2663-2664
[12] Friehe, H.-F.: Die „Wartezeitregelung“ für Asylbewerber vor und nach den Änderungen von Arbeitsförderungsgesetz und Arbeitserlaubnisverordnung, in: Zeitschrift für Ausländerpolitik 1982, H. 4, S. 172-178 (178)

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